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Social-Media Grundsätze: Mythos Reichweite

There is an English translation of this post available at Social Media Principles: The Myth of Reach [EN]

Soziale Medien sind das goldene Kalb, wenn es darum geht, als Kreative:r Reichweite zu bekommen. Aber was heißt „Reichweite“ überhaupt?

Disclaimer
Ich sage an dieser Stelle gleich: Ich habe um 2008 rum in einer Social-Media-Agentur gearbeitet und danach über die Jahre auch bei einigen anderen Agenturen und Arbeitgebern öfter Social-Media-Betreuung gemacht oder mit dem Team zusammengearbeitet. Dadurch hatte ich auch ein paar Schulungen inkl. eine von Google und dergleichen. Ich weiß, wie es geht und was empfohlen und verkauft wird. ABER ich machte fast alles anders, als die Leute in Agenturen. Warum? Weil’s meiner Meinung nach auch anders und vor allem entspannter geht. Man KANN nach den Spielregeln der Plattformen und deren Algorithmen spielen, MUSS man aber NICHT.

Was bedeutet Reichweite?

Wenn man auf einschlägigen Infoseiten für Social-Media-Marketing nachliest, sind sie sich alle einig, dass Reichweite was mit der Größe der Followerschaft, Anzahl von Zielpersonen, Interaktionen, Einfluss und Return of Investment (ROI) zu tun hat.

Wenn ich hier von Reichweite schreibe, meine ich, wie viele Menschen Ihr tatsächlich mit Eurem Post erreicht.

Wen erreichen wir auf algorithmisch gesteuerten Netzwerken wirklich?

Das Ganze hat mehrere Ebenen. Fangen wir bei den reinen Zahlen an. Angenommen, jemand hat 500 Follower:innen in einem algorithmisch gesteuerten Netzwerk wie zB Instagram. Diese Person geht jetzt möglicherweise davon aus, dass sie 500 Personen erreicht, wenn sie einen Post macht. Die Erfahrungswerte sagen, dass aber nur ein paar davon dann klicken oder gar antworten.

Tatsächlich erreicht diese Person auch gar keine 500 Leute. Denn die Algorithmen errechnen in jeder Millisekunde, was die einzelnen Nutzer:innen gerade am meisten dazu animieren würde, weiter Zeit im System zu verbringen – Zeit, in der den Leuten Werbung angezeigt, also der Vertrag mit den eigentlichen Kunden der Plattformen erfüllt werden kann.

Zur Erinnerung: Die Kunden sind nicht wir, sondern die Firmen, die viel Geld zahlen, damit den Nutzenden deren Werbung angezeigt wird.

Realistisch geschätzt erreicht Ihr auf algorithmisch gesteuerten Netzwerken ca. 15-20 % der Anzahl, die Euch als Followerschaft angezeigt wird. Allen anderen wird was anderes gezeigt, die kriegen Euren Post nie zu sehen, außer sie gehen mal direkt auf Eure Seite. Wenn sie sich gerade mal an Euch erinnern – bei den tausenden Posts pro Tag, die durch die TL jagen, kann das auch schon schwierig sein.

Ja, aber wenn mein Post dann viral geht … !

Für alle, denen das grad nichts sagen sollte: Viral gehen meint dass ein Post in kurzer Zeit sehr häufig und von sehr vielen Menschen geteilt wird. Den Wort-Ursprung haben wir in den letzten drei Jahren beobachten können, auch wenn der Social-Media-Begriff schon vor Corona existierte. (Nahezu) exponentielles Wachstum ist aber auch hier gemeint.

Und was heißt das in der Praxis? Ein kurzer Aufreger. Hoffentlich ein paar neue Follower:innen.

Die eigentliche Frage ist: Wieviel Traffic bringt der Post auf Eure Autor:innen-Webseite? Auf Euren Blog? Euren eigenen Buch-Shop? Wenn der Post nur innerhalb des Netzwerks bleibt, dann habt Ihr auch vom viral gegangenen Post nicht viel, außer er bringt Euch eine größere Menge neue aktive Follower:innen, die jetzt jeden Tag auf Eurem Profil nach neuen Inhalten schauen.

Den Algorithmen ist das übrigens völlig egal, ob Euer Post viral geht oder nicht. Die nutzen Euren Post aus, damit andere länger auf der Plattform bleiben, um daneben dann die Werbung eines Kunden anzuzeigen. Sprich, die Plattform verdient bares Geld. Ob Euer Werbe-Geld dazu beiträgt, dass Eure Posts mehr von den Algorithmen gepusht werden, dazu mehr im Blogpost zu bezahlter Social-Media Werbung.

Downranking & Shadowbanning

Es heißt, wenn man nach den Spielregeln der Algorithmen spielt, regelmäßig jede Woche montags um 8:05 Uhr eine Umfrage postet und dann viel mit anderen interagiert, der taucht immer in den Timelines der anderen Nutzenden auf. Wenn man aber nicht so folgsam ist oder einfach auch noch ein Leben in dieser 3d-Welt hat, denen ist das algorithmische Glück bald nicht mehr hold. Wer länger nicht postet oder zu selten oder unregelmäßig, der wird von den Algorithmen gar nicht mehr in irgendwessen Timeline gelassen, je nachdem, wie die Algorithmen gerade eingestellt sind.

Shadowbanning bezeichnet den Zustand, wenn jemandes Posts nicht mehr bei anderen in der Timeline angezeigt werden.

Diese Form der „Bestrafung“ führt auch wieder zu Stress und dazu, dass wir in unserem Hamsterrad ständig versuchen, den Algorithmen zu dienen, während wir eigentlich gerade neue Bücher schreiben könnten.

Müssen wir überall sein, um überhaupt noch wen zu erreichen?


Ergibt es Sinn, Zeit zu investieren, um auf 3, 4 oder 5 Netzwerken zu sein und deren jeweilige Algorithmen zu bedienen? Schwerlich.

Habt Ihr Lust drauf, Euch ein neues Netzwerk anzusehen? Das ist eine völlig andere Frage! Aber es gleich voll für den Betrieb als Teil Eures Außenauftritts einzurichten ist vielleicht etwas Viel des Guten. Wir haben alle nur 24 Stunden pro Tag und es ist auch fraglich, ob ein zersplitterter Ausßenauftritt Euch weiterhilft.

Aber ich muss doch dort sein, wo meine Zielgruppe ist!

Das wird uns immer wieder erzählt, ja. Weil die ganze „Magie“ der kommerziellen Social-Media-Plattformen in bezahlter, zielgruppengerichteter Werbung liegt. Ihr findet schon Menschen, die Eure Werke interessieren auch auf den großen kommerziellen Plattformen, WENN Ihr dort Geld dafür zahlt. Oder sonst nur sehr begrenzt. Aber auch für Geld bekommt Ihr keine Informationen über Eure Interessent:innen. Das ist ja das Geschäftsgeheimnis der Plattformen. Ihr bekommt keinen E-Mail-Verteiler von 500 Menschen, die Eure Bücher interessieren, sondern Ihr bezahlt Geld dafür, dass die Algorithmen die Magie im Hintergrund machen und – hoffentlich – Eure Inhalte an Leute ausspielen, die vielleicht in Eurer Zielgruppe sind. (Mehr dazu im Artikel zu bezahlter Social-Media-Werbung, coming soon!)

Vielleicht ist die Frage also nicht unbedingt, wo (angeblich) Eure Zielgruppe ist, sondern wie Ihr wirklich direkt mit den Menschen interagieren könnt, die Eure Werke interessieren, ohne dass alle Macht dazu bei einer Plattform liegt und nur gegen Einwurf mittlerer Münzen funktioniert.

Zielgruppen-Analyse: Wen wollt Ihr denn erreichen und wozu?

Das bringt uns zur Frage: Wer ist denn Eure Ziegruppe? Und jetzt vergessen wir mal die übliche Demographie von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Wohngegend … Was bewegt diese Menschen? Was lieben sie? Worin gehen sie völlig auf? Was ist ihr größtes Problem und wie helft Ihr ihnen, das zu bewältigen? Und wo und womit verbringen sie ihre Zeit? Und wenn Ihr das mal für Euch klar habt, was wollt Ihr dann von denen?

Und jetzt weiter zur Frage: Was für Bücher schreibt Ihr denn? Oder was für Musik / Kunst macht Ihr? Was verbindet Euch als Menschen mit Eurer Zielgruppe? Die wenigsten von Euch werden Werke produzieren, die sie selbst nicht interessieren, oder?

Seid dort, wo Ihr Euch wohlfühlt, das zieht Menschen an

Die Chancen stehen gut, dass Ihr Werke produziert, die Euch selber interessieren. Und dass Ihr Menscen in Eurer Umgebung dafür begeistern könnt, weil Ihr auf einer ganz menschlichen Ebene Parallelen und Anknüpfungspunkte findet. Ihr habt wahrscheinlich schon gemeinsame Interessen. Wenn Ihr jetzt auf eine andere Plattform wechseln müsst, um Menschen zu finden, die die gleichen Interessen haben wie Ihr, dann solltet Ihr Euch fragen, ob Ihr in den letzten Jahren auf der richtigen Plattform wart.

Ganz im Ernst. Unsere Fans sind nicht doof. Die merken ziemlich genau, wenn Ihr irgendwo nur seid, weil Euer Verlag oder Label das von Euch verlangt, dass Ihr irgendwo nur irgendwann mal was postet, wenn Ihr Geld von den Followern wollt (sprich, wenn Ihr ein neues Buch habt) und sonst nie erreichbar seid. Das baut kein Vertrauen auf und macht wenig neugierig auf Eure Werke.

Umgekehrt wird ein Schuh draus: Dort wo Ihr Euch wohlfühlt, wo Ihr gerne mit den Menschen interagiert, wo Ihr nahbar und präsent seid, da baut Ihr auch eine Followerschaft auf und findet Menschen, die an Euch und Eurem Schaffen auch interessiert sind.

Reichweite im Fediverse

Zum Fediverse schreibe ich Euch noch einen aktuellen Blogpost. Die letzten zwei sind von November 22 und Juni 23.

Reichweite ist im Fediverse eine ganz andere Angelegenheit als auf den algorithmisch gesteuerten Netzwerken. Denn da gibt es keine Algorithmen, die darüber entscheiden, was für jede:n von uns interessant ist oder nicht. Wenn wir dort 500 Follower:innen haben, dann geht unser Post auch in die Timeline von 500 Follower:innen. Punkt. Chronologisch und ohne große Relevanz-Gewichtung. Da steht dann Eure Buchankündigung zwischen der Tagesschau und dem Hundewelpen und dem reinen Textpost, wo jemand nach einer Empfehlung für XY fragt.

Besser noch: Wenn jemand Euren Post teilt, dann erreicht Euer Post auch alle Follower:innen dieser Person. Und das sogar in weiteren Netzwerken des Fediverse, wo der Post dann noch weiter geteilt werden kann. Wahrscheinlich erreicht Ihr damit sogar deutlich über 500 Menschen. Werden ihn alle sehen oder einige vielleicht drüberscrollen? Wahrscheinlich. Aber es gibt kein Downranking oder Shadowbanning im Fediverse. Und den nächsen Post werden die „verscrollten“ Follower:innen beim nächsten Mal wieder normal in ihrer Timeline sehen können.

Tipp: Es lohnt sich übrigens durchaus, den eigenen Post zu einer anderen Zeit nochmal zu teilen. Für die Spätschicht – oder die Frühschicht, je nachdem, wann Ihr den Post ursprünglich gemacht hattet.

Interaktionsraten im Fediverse

Die meisten, die von Twitter oder Facebook ins Fediverse gekommen sind, berichten davon, dass sie mit einem Bruchteil der Followerzahl eine um ein Vielfaches höhere Interaktionsrate haben.

-> heise online auf Mastodon: Bilanz nach dem ersten Jahr im Fediverse

Also selbst wenn Ihr vielleicht statt 500 erst einmal „nur“ 50 Follower:innen habt, habt Ihr mit denen trotzdem mehr zu tun als vorher mit den 500. Weil das Fediverse für Mensch-zu-Mensch-Kommunikation ausgelegt ist. Und, erinnert Euch, von den 500 habt Ihr vorher auch nur 50-75 Menschen erreicht und von denen müssen auch noch welche die Zeit haben, Euch zu schreiben.

Schaut Euch gerne im Fediverse um, es gibt ganz unterschiedliche Plattformen dort, auch welche, die wie Facebook oder wie Instagram aussehen. Wir betreiben selbst einen Mastodon-Server unter https://literatur.social/. Die Registrierung ist offen, kommt rein und probiert es aus. Ich werde noch einen extra Post machen, wie man im Fediverse am besten startet, ich schreibe nur eben die Serie zu den Social-Media-Grundsätzen zu Ende. 🙂

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